Nie wieder Stadtschlampe
Letztes Update: Montag, 21. September 2015
Sucht man im Internet nach dem häßlichen Wort Stadtschlampe, ergibt eine Bildersuche aktuell dieses Resultat:
Zu einer solchen Stadtschlampe gehörte auch mein Gazelle Primeur luxe, das ich das letzte Mal im Januar 2010, einem sehr verschneiten Wintermonat mit folgendem Kommentar fuhr:
Gefühlte 20 Kilo: Ein gutes, altes, holländisches Gazelle Fahrrad. Hat schon meinen Vater gehört und geschätzte 30000km auf dem Buckel. Erschien mir heute morgen sinnvoller als mit Rennradreifen durch den Schnee… Das Mountainbike hat nämlich keine Beleuchtung.
Zu diesem Zeitpunkt hatte das Fahrrad seine besten Jahre schon lange, lange hinter sich. Es gehörte meinem Vater, der 1995 einer langen und schweren Krankheit erlag, ich schrieb letztes Jahr kurz drüber. Papa ist viel damit gefahren. Nach seinem Tod haben wir es nicht weggeben oder verkauft, ich habe es irgendwann angefangen, selber zu nutzen, Anfangs statt eines Mountainbikes zur Schule, dann zu Parties, zum Saufen und so weiter. Das volle Programm halt, das viele Hollandräder abbekommen. Davon trennen mochte ich mich allerdings nie und so habe ich es in Ausbildung und Studium mitgeschleppt und auch durch die Keller aller Wohnungen, die ich bis jetzt alleine oder mit Frau und Familie bewohnte.
Ungefähr 2007 began ich wieder, intensiv Fahrrad zu fahren. Ich kaufte zuerst ein Mountainbike und dann aus Gründen, die ich nicht mehr nachvollziehen konnte, ein weiteres, “modernes” Hollandrad. Letzteres habe ich sehr schnell bereut.
Das schlimmste, was ich dem alten Gazelle antat, war die versuchte Instand Setzung bei Cycle. Wenn es diesen Laden noch geben würde, mir würde kein Radshop einfallen, von dem ich mehr abraten würde. Nicht nur, dass sie es nicht geschafft haben, ein neues Cannondale sachgerecht auszuliefern, dem Gazelle haben sie den Rest gegeben: Keinerlei Funktion mehr der Schaltung, die Sattelkerze regelrecht mit dem Koben zerquetscht, unpassende Mäntel und für mich damals (und heute auch noch) das schlimmste: Den Antreiber des VDO Tachos falsch herum wieder eingebaut und den Tacho zerstört. Ich hätte morden können.
Nach obigen Winterbild fuhr ich das Rad einige Male noch frustiert und machte dann den Fehler, es mit Schnee und Eis in den Keller zu stellen, was mir zumindest Teile der Felgen und weitestgehend alle Speichern vollends ruinierte.
So stand die Kiste bis vor einigen Wochen im Keller. An einem Wochenende, eh frustriert von einem Streit, sah ich das Rad dort stehen, innerhalb meiner kleinen Sammlung und dachte, fühlte nur: Bist Du eigentlich bescheuert? Sagst Deinem Sohn, es ist eine Erinnerung an seinen Großvater und lässt es vor sich hinrosten.
Ohne lange drüber Nachzudenken und deswegen auch ohne Foto habe ich die Gazelle in das Fahrradrack eingespannt, mich mit Schraubschlüsseln, Schraubendreher etc. bewaffnet und angefangen, abzubauen, was abzubauen geht… Ohne zu wissen, wo es hingeht.
Einige Stunden später sah das ganze fast so aus:
Fast, weil ich weder Lenker noch Kurbel und damit auch nicht das Tretlager gelöst bekam. Bei Stassen behielt man zwar den Rahmen fast 3 Tage da, war aber nicht wirklich motiviert, mir zu helfen. Die Jungens der Radstation der WABe e.V. waren da viel hilfsbereiter und mit höchstem Einsatz an der Hand. Leider mussten sie mangels passendem Werkzeug auch passen. Den entscheidenden Tipp, wie ich den Vorbau löse und bzw. den Ausbau der Kurbel übernahm dann Tweewielers Bisshops.
Ich twitterte das Bild mit dem Kommentar “Alles ab”, nun, stimmte so nicht, die Lagerschalen und Schalt- und Bremszugführungen am Unterrohr waren noch dran. Sehr gefreut habe ich mich darüber, dass nicht alle verchromten Teile so gelitten haben, wie Felgen, Speichen und ein paar Kleinteile:
Nun war die Gazelle nackt. Und jetzt? Mein Ziel: Ein modernes Retrofahrrad aus alten Teilen und keines der auf Alt bzw. Retro getrimmten, billigen Aluräder vom Discounter. Das Fahrrad soll seine “Persönlichkeit” nicht verlieren, allerdings z.B. alltagstaugliches Licht (das heisst insbesondere kein Seitenläuferdynamo) haben. Gepäckträger muss nicht erhalten bleiben. Weiterhin sollen möglichst wenig sichtbare Kabel und Züge irgendwo rumhängen.
Und: Das Wort Stadtschlampe möchte ich nie wieder hören. Zum einen ist es auf vielfacher ebene Respektlos und zum anderen tut es vielen Fahrrädern schlicht und ergreifend Unrecht.
Der erste Schritt: Neu lackieren. Ja, die Decals haben “historischen” Wert, mehr aber auch nicht. Die Ausfallenden fingen anzurosten und wirklich schön sah es nicht mehr aus. Ich schaute mich nach RAL Farben um, die dem alten Grau ähnlich waren, dachte über ein dunkles Braun nach (vor diesem Rad hatte mein Vater ein braunes Rad, das ich sehr schön fand) und letzten Endes nahm mir Herr Pajak von Pajak Pulverbeschichtungen in Würselen die Entscheidung ab. Er hatte ein wunderbares Metallicgrau da:
Ersatzteile zu finden ist nicht ganz einfach. Originalteile bekommt man, sie sind aber nicht wirklich günstig. Viele schöne, moderne Teile passen nicht bzw. man muss trickens, damit es passt. Während das hintere Curana Clite Schutzblech passt:
scheiterte ich mit dem vorderen, weil die Gabel keine Ösen fürs Schutzblech hat, sondern von einer Achsbefestigung ausgeht.
Mit Rücklicht von Spanninga und den wieder angenieteten Schaltzugführungen:
Entweder fehlt mir sehr oft das passende Werkzeug (ich hatte keine Metalbohrer für das Schutzblech und natürlich keine Blindnietenzange) oder ich bin furchtbar ungeschickt, so etwas zu realisieren, deswegen bin ich schon mit diesen kleinen Erfolgen stolz. Mittlerweile ist das Kabel für das Rücklicht innwanding verlegt und das Emblem auch wieder dran und ich finde es bis jetzt super.
Kabel. Die Stromleitungen für Vorder- und Rücklicht wollte ich wieder im Rahmen bzw. neu, auch in der Gabel haben. Wurde die Beleuchtung des “alten” Fahrrad noch mittels eines Seitenläuferdynamos betrieben, so soll das neue einen Nabendynamo bekommen. Damit einhergehend sollte die Verkabelung natürlich zweiadrig erfolgen, nicht mehr Masse über Rahmen. Das stellt einen bei den dünnen Bohrlöchern im Lenker bzw. im Rahmen vor Herausforderungen. Das schlimmste war die Gabel und ich war sehr froh, nachdem meine Frau und ich dieses Ergebnis nach einigen Stunden Gefummel endlich erreicht hatten:
Endlich: Nach 6 Wochen warten sind die Laufräder da, im Bild das Vorderrad mit Sturmey Archer Trommelbremse und Nabendynamo:
Aufgezogen habe ich Schwalbe Schläuche und den Schwalbe Century mit grauer Seite. Leider ist das grau dann doch dunkler als auf den Produktfotos, aber ich denke, im Tageslicht wird es ganz gut aussehen.
Und dann gab es direkt den nächsten Rückschlag: Die Achsen beider alter Laufräder waren abgeflacht, die Ausfallenden von Gabel und Rahmen natürlich passend dazu. Das neue Vorderrad hat aber eine komplett runde, sprich eine Achse mit größerem Durchmesser. Aaargh! Was tun? Achse oder Gabel abschleifen? Ich habe mich dann dazu entschieden, die Ausfallenden der Gabel mit einer Rundfeile zu bearbeiten und danach hat meine Frau sie für mich mit Rostschutzfarbe behandelt. Hoffen wir auf das Beste :)
Aktuell sind nun alle Teile beim Zweiradhändler in Kerkrade. Ich möchte mir nicht noch Werkzeuge für Tretlager und Steuersatzmontage kaufen, das würde ich nur einmal nutzen und dann liegt es. Ich bin sooo gespannt.
Der Stand eine Woche später:
Es fehlte leider der Lockring für das Ritzel. Ich habe an viel gedacht, daran leider nicht. Nun gut, es fährt sich sicherlich besser, wenn das Ritzel nicht nur gesteckt ist :) Davon abgesehen bin ich aber schon restlos begeistert.
Roger von Tweewielers Bisshops hat sich noch etwas Zeit gelassen, so dass ich das Ergebnis dann doch erst eine Woche später abholen konnte, aber es hat sich gelohnt:
Kurz, nachdem ich dieses Foto gemacht habe, fing es in Strömen anzuregnen:
Dabei war vorher das Licht noch so schön.
Das Fahrrad fährt sich erstaunlich gut. Sehr ruhig und spurstabil und der knallharte aber wunderbar gefederte Brooks Sattel ist einfach nur bequem. Ich habe LED-Beleuchtung im klassischen Look mit komplett innen verlegten Kabeln. Der digitale Tacho fällt natürlich vollkommen aus dem Rahmen, aber der innere Monk möchte nicht ohne. Ich wüßte zwar sogar, wo ich einen analogen herbekomme, der wird aber wegen des Nabendynamos nicht passen.
Das wunderbare Sturmey-Archer Kettenblatt. Die Übersetzung 46:19 ist genau richtig:
Und heute, an meinem Geburtstag, bin ich mit meinem alten, neuen Fahrrad zur Arbeit gefahren und war richtig glücklich:
Wenn ich mir die Kosten anschaue: Ich hätte auch ein neues, “altes” Fahrrad, ein Retroteil, kaufen können. Ich bin froh, dass ich es nicht gemacht habe.
Übrig sind jetzt noch zwei Sturmey Archer Naben (Vorder- und Hinterrad), die ich entrosten werde und dann einer Revision unterziehe sowie zwei Felgen, die gar nicht mal so schlimm aussehen, nachdem ich die verrosteten Speichen entfernt habe. Was ich dann damit mache? Mal schauen… ;)
Kosten
Hier führe ich nur die Kosten auf, die bis jetzt wirklich an und im Rad stecken, Fehlgriffe und Werkzeugkäufe nicht aufgelistet:
Was | Wieviel |
---|---|
1.023,25 | |
Sandstrahlen und Pulverbeschichten | 125,00 |
Kurbeln und Tretlager demontieren | 20,00 |
Curana CLite Silber | 31,95 |
Spanninga Nr. 9 Xds | 14,90 |
Spanninga Swingo Xdo | 15,95 |
2 x Lichtstopfen (groß) | 0,40 |
Emblem | 3,80 |
Gazelle Lenker Spindel | 5,90 |
Brooks Ledergriffe | 65,00 |
Brooks B66 | 89,95 |
Axa Click 3 | 37,95 |
Hochflexibles Silikonkabel 2x0,35 mm² | 2,70 |
Niro Vorderrad mit Sturmey Archer X-FDD Trommelbremse / Nabendynamo | 129,90 |
Niro Hinterrad mit SRAM 3-Gang Schaltung / Rücktritt | 119,00 |
2 mal Schwalbe Felgenband | 3,00 |
2 mal Schwalbe Schlauch #17 | 7,90 |
2 mal Schwalbe Century Reifen | 19,90 |
Gazelle Hollandrad Tretlager-Achse | 28,90 |
Sturmey Archer Kurbelsatz FCT66 46T | 63,95 |
Gazelle Tour Populair Steuersatz | 9,95 |
Zusammenbau (insbesondere Tretlager, Steuersatz etc.) | 227,25 |
Danke an
Geschrieben am Dienstag, 11. August 2015 von Michael J. Simons in Fahrrad und verschlagwortet mit